Einstieg

"Wenn man an der Innerste aufwärts von Hildesheim nach Marienburg geht, findet man etwa auf der Hälfte des Weges eine Höhle, das sogenannte Zwergloch. Dort wohnte vor vielen Jahren ein Volk von Zwergen unter einem eigenen Könige Ein Schäfer erzählte darüber folgendes: Lange vor unserer Zeit hatten die Zwerge in dem Loche ihre Schmiede, wovon es noch heutiges Tages schwarz ist."

Georg Schambach & Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855

Zugegeben: Das Banner auf der Haupseite zeigt eher wandelnde Wichte als Wichte im Wandel, und "Die wahre Geschichte der Zwerge" klingt eher nach einem Boulevardmagazin. Aber irgendwie fand ich das Bild passend, denn die Geschichte der Zwerge hat viel mit Kulturtransfer und damit auch mit Migration zu tun. Und ganz wie in einem Boulevardmagazin möchte ich hier einige Stars ins Scheinwerferlicht zerren, denen allerdings (leider und völlig zu Unrecht) gemeinhin eher wenig Beachtung geschenkt wird: die Zwerge.

 

Damit sind weder Zwergkaninchen Zwergsträucher noch kleinwüchsige Menschen gemeint. Auch Gartenzwerge und subterrestrische Bewohner von Mittelerde sind nicht primär angesprochen. Hier geht es um die Gnome, Kobolde, Schrate, Trolle und Wichte der niederen Mythologie, insbesondere aus der Perspektive der Erzählforschung. Achtung: Die Beiträge können Spuren historischer, kulturwissenschaftlicher und religionswissenschaftlicher Aspekte enthalten!

 

In Form eines BLOGS soll der reichlich mäandrierenden Spur gefolgt werden, welche die folkloristisch-mythologische Zwergenfigur in Volkssagen, der (mittelalterlichen) Dichtung sowie im Aber- und sonstigen Glauben hinterlassen hat. Ausgenommen bleibt lediglich die sogenannten Esoterik. Wer von der physischen Existenz von Waldgeistern und Elfen überzeugt ist und ihnen persönlich begegnen möchte, möge anderswo fündig werden.

 

Vom Wesen der Zwerge

Bevor man beginnt, von Zwerge zu sprechen, kann es nicht schaden, kurz auf das Wort selbst und seine Bedeutung einzugehen. Es ist genau genommen sogar zwingend erforderlich, denn die Bezeichnung Zwerg bezieht sich auf eine ziemlich heterogene Gruppe von Wesen und ist über die Zeit einem beträchtlichen Bedeutungswandel unterlegen. Mit anderen Worten: Was mit einem Zwerg gemeint ist, muss unter Umständen erst aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden. Je nach Kulturraum, Epoche und Kontext wurde der Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten beladen und kann Lebeswesen, Figuren der Mythologie und Phantastik, oder Artefakte bezeichnen.

 

Zum Beispiel unterscheidet Johannes Prätorius Mitte des 17. Jahrhunderts ganz strikt zwischen den Zwergen, zu denen er unter anderem Pygmäen und kleinwüchsige Menschen zählt, und den mythologischen Geistern, für die er keinen eigenen Oberbegriff erfindet sondern drei Haupttypen nennt: „Bergmännerlein,  Wichtelin,  Unter-Irdische“. Dem entgegen stehen die Querxe der Oberlausitzer Sagenwelt, deren Name wohl durch Umformung althochdeutscher Bezeichnungen (Twarg -> Quarg bzw. Twerg -> Querch -> Querx) enstand (siehe hierzu auch die etymologischen Anmerkungen im Blog). Dieser Widerspruch deutet darauf hin, dass das Bild des heutigen Zwergs in unterschiedlichen Evolutionslinien wurzelt. Wann immer auf diesen Seiten von Zwergen die Rede ist, so geschieht dies im Sinne eines unspezifischen Sammelbegriffs, der unterschiedliche Wesen aus vielen verschiedenen Mythologien zusammenfasst – unabhängig von der Epoche, der Literaturgattung oder der den jeweiligen Geisterwesen im Einzelnen zugeschriebenen Eigenschaften.

 

Zahllose Darstellungen von kleinwüchsigen Menschen oder von mythologischen Zwergwesen (und nicht immer sind beide Gruppen eindeutig zu trennen!) in der bildenden Kunst belegen, dass Abweichungen von der körperlichen Norm schon immer eine starke Faszination innewohnte. Kleinwüchsige Menschen haben für die Ikonografie der Zwerge schon seit der Antike eine große Rolle gespielt. Näheres dazu folgt in entsprechenden Blogbeiträgen, die auf die Einflüsse von Pygmäen und "Hofzwergen" eingehen werden. Interessierte Leser(innen) seien hierzu an zwei umfassende Übersichtswerke verwiesen: „Kleinwuchs: eine Kulturgeschichte in Bildern“ von Alfred Enderle und Gerd Unverfehrt (2007) sowie „The Lives of Dwarfs“ von Betty M. Adelson (englisch, 2005). Zwerge bevölkern auch die Gebrauchs- und Volkskunst. Der Gartenzwerg wurde oft als Inbegriff des Kitsches und des deutschen Spießbürgertums aufgefasst. Aber auch diese figürliche Darstellungen haben zur Entstehung des prototypischen Zwergs moderner Ausprägung ihren Teil beigetragen. Freilich als dem Resultat einer langen Entwicklung, die von Sandsteinfiguren fürstlicher Jagschlösser über Terrakotten in Parks und Hausgärten wohlhabender Bürger bis hin zum ultimativen Durchbruch im kleinbürgerlichen Vorgarten führt. In vielen modernen Illustrationen wurden und werden Zwerge nach Art eines Gartenzwergs dargestellt. Das hat verschiedentlich sogar dazu verleitet, die Zipfelmütze als Definitionskriterium für Zwerge zu nehmen. Historisch gesehen ist die aber Zipfelmütze ein spätneuzeitliches Attribut für Zwerge im Allgemein und Gartenzwerge im Besonderen. 

Kaum zu überschätzen ist letztlich auch der Einfluss der Fantasy-Kultur, die insbesondere mit den Genre-prägenden Werken von J.R.R. Tolkien ein neues Bild von Zwergen etablierte. Mehr zu diesen Thema findet sich in dem hier verlinkten Blog.